Holunder-Wunder
In der Mitte meines Gartens steht ein kräftiger Holunder. Auf der Bank darunter sitze ich gerne und bewundere all die Gemüsepflanzen und Heilkräuter, die hier wohnen. Jedes Jahr hat der Garten ein anderes Gesicht, je nachdem was ich anbauen möchte. Aber vor allem bekommt der Garten seinen Charakter durch die Pflanzen, die sich selbst ausgesät haben und wild ihren Platz beanspruchen. So steht das Herzgespann nicht nur im Kräuterbeet, sondern neuerdings auch beim Mangold. Das Lanzen-Eisenkraut ist aus den Beeten vom Vorjahr ausgebüchst und umgarnt nun den Palmkohl. Auch der Holunder, unter dem ich sitze, hat wild und ohne meine Absicht dem Garten sein Herz gegeben.
Es hat mich Überwindung gekostet, meine ursprünglichen Gartenpläne aufzugeben, den Holundersprößling mittendrin stehen zu lassen und den Gartenpfad um ihn herum zu verlegen. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, das wilde Holunderbaby zu entfernen. Heute bin ich froh, dass der Garten nicht nur nach meinen Kriterien gestaltet ist, sondern vielen, auch ungeahnten, Möglichkeiten Raum gibt und gerade dadurch seine Schönheit entwickelt. Ich genieße jetzt meinen Lieblingsplatz unter dem Holunder, wo ich Pause mache und zu einer neuen Art von Kraft finde, die ich vorher so nicht kannte.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass solche und andere Entwicklungen in meinem Garten wirklich etwas zu bedeuten haben. Sie sind die Sprache des Gartens. Sie erzählen mir davon, dass die Wunder genau dann geschehen, wenn es nicht nach meinem Willen geht, wenn ich den Gartenlebewesen mehr Bedeutung gebe als mir selbst. Ich bin in meinem Garten nicht mehr die alles bestimmende Krönung der Schöpfung, sondern spiele einen bescheidenen Part im Miteinander. Das gibt mir tatsächlich Halt und neue Kraft für die Welt jenseits meines Gartens.
„Die Sprache des Gartens erzählt mir von den Wundern, die genau dann geschehen, wenn ich den Gartenlebewesen mehr Bedeutung gebe als mir selbst.“
Wenn ich dieser neuen Kraft einen Namen geben müsste, würde ich sie vielleicht Verwurzelung nennen. Ich glaube, dazu muss ich nicht unbedingt an dem Ort leben, an dem ich aufgewachsen bin oder die Tradition pflegen, in die ich hineingeboren wurde. Das geht für mich viel tiefer und weiter zurück, bis zum Ursprung, als die Menschen noch mit der Natur verbunden gelebt haben. Verwurzelung ist für mich der ursprüngliche Zustand als Mensch im Garten dieser Erde, wenn ich der Erde und ihren Pflanzen- und Tierwesen mehr Bedeutung gebe als meinen Wünschen und Vorstellungen.
Rezept “Raum für kleine Wunder bereiten”
Vorbereitungen:
• Wähle eine Heilpflanze aus, die Du gerne kennenlernen möchtest.
• Säe die Samen aus oder kaufe die Pflanze und gib ihr einen Platz bei Dir.
Zubereitung:
• Versuche, einfach (fast) nichts mit der Pflanze zu tun, sie also nicht zu nutzen oder zu ernten.
• Vielleicht magst Du immer wieder mit der Pflanze einfach sein. Womöglich fällt Dir Neues an ihr auf?
Wirkung:
• Aus Deinem absichtslosen Miteinander mit der Pflanze können neue Einsichten und neue Kräfte entstehen – sozusagen Deine innerliche Ernte.